Führen ohne Führung?

Führung ohne zu führen?Die Zeiten der Patriarchen sind vorbei. Modernes Management braucht sie nicht mehr. Ja, mehr noch, sie stehen moderner Führung im Wege und erweisen sich als Hindernis für eine Anpassung an die Bedingungen einer komplexen, globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft. Vernetzung heißt das Zauberwort und damit fallen auch die Autoritäten, so heißt es in der Netzwelt. Wirklich?

„Führungsbedürftige Mitarbeiter verdienen kein Lob, sondern Kontrolle“, sagt hingegen der Management-Coach Roland Jäger, und löst damit natürlich eine heftige Debatte aus. Erscheint er doch als Dinosaurier in einer Welt, für die selbst Teamarbeit schon fast ein Auslaufmodell ist und die holistische, global-transparente Wissensgesellschaft zum Credo des 21 Jahrhunderts avanciert. Barrierefreiheit duldet keine Macht und duldet kein Geheimnis. Wiki-Leaks-Gründer Julian Assange wird zum Robin Hood der Internetcommunity, grenzenlose Information wird zur berauschenden Droge, das Web 2.0 ist die Party der Informationsgesellschaft. Regeln stören nur, Macht sowieso. Und wozu brauchen wir eigentlich Führung, wenn wir doch reife Wissensarbeiter sind – informiert, engagiert und motiviert?

„Wie coache ich eigentlich meinen Chef?“ fragte mich kürzlich jemand. Meine Entgegnung, das sich hier wohl die Hierarchieverhältnisse etwas verkehren würden, befriedigte die Fragestellerin nicht. Ihr schwebte als Ideal so etwas wie eine kooperative Führung vor. In einer anderen Diskussion sah jemand in Regeln das Begrenzende einer Organisation. Diese würden Kreativität ersticken und zu leicht zum Selbstzweck werden. Da ist ja was dran.

Aber wie viel oder wie wenig Führung und Regeln verträgt die moderne Informationsgesellschaft eigentlich? Ist Führung nicht immer mit Macht verbunden und ist Führung damit  ein Feind der Freiheit?

Es grünt so grün

Die Überlegung ist, ob sich eine Organisation auch ohne formale Führung führen lässt. Kann sich eine soziale Gemeinschaft selbst führen – auch ohne Führungskräfte? Aus dem Bereich der Wirtschaft gibt es kaum Beispiele derartiger Modelle. Das hat natürlich etwas mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln zu tun, welche eine egalitär-demokratische Unternehmensstruktur nur in Grenzen ermöglichen. Aber das erklärt nicht alles. Auch genossenschaftliche Unternehmen haben Führungsstrukturen und die funktionieren per se nicht anders als die in privatwirtschaftlichen Betrieben.

Schauen wir uns also einmal auf der politischen Bühne um. Auch die Grünen kamen mit dem Anspruch der Basisdemokratie, der totalen Transparenz in den Bundestag. Macht Einzelner sollte es nicht geben – aber es gab sie doch. Heute ist vom Ideal kaum etwas übrig geblieben, außer dem Nachhall der Gründerjahre. Die Grünen sind eine moderne, etablierte Partei geworden, wohl ohne den ideologischen Ballast des  19. und 20 Jahrhunderts, aber eben mit effektiven Führungsstrukturen. Selbst bei der Partei „Die Linke“, die sich ja kollektivistischen Ideen nicht  ganz abgeneigt zeigt, spürt man wenig von einer grundsätzlichen Führungsfeindlichkeit. Wie kann es also sein, dass selbst die Protagonisten des Kollektivismus weit entfernt sind von egalitären Strukturen ohne Hierarchien?

Das Internet ist keine Organisation

Bei allem Charme, der egalitären Gesellschaftskonstruktionen anhaftet: Die Verfechter dieser Modelle vergessen, wozu soziale Organisationen überhaupt gut sind. Ein akademischer Debattierclub benötigt keine Führung, wohl aber immerhin einen Moderator, der dafür sorgt, dass die Freiheit und Gleichheit der Rede gewahrt bleibt. Hier ist Kommunikation Selbstzweck. Es geht um den Austausch schlechthin, um den offenen Diskurs. Das ist auch sinnvoll, denn Realität ist schließlich das Ergebnis von Kommunikation (Watzlawick) und wie soll ich meine eigene Realität überprüfen können, wenn ich mich nicht austausche? In diesem Sinne ist Barrierefreiheit das Essential einer freiheitlichen und kreativen Gesellschaft. Soziale Kreativität entsteht aus der Diversität von Ideen und deren Spannungsverhältnis, das immer wieder neue Lösungen einfordert.

Die Internetcommunity tut also gut daran, für die Wissensgesellschaft diese Barrierefreiheit einzufordern. Freie Information ist ihr höchstes Gut. Sie zeichnet die hochentwickelte menschliche Kultur aus und ist eine  Bedingung dafür, dass letztere sich weiterentwickeln kann.

Aber das Internet ist keine Organisation. Das Internet ist ein Kommunikationsnetz so wie es früher die Straßen und Flüsse waren und später das Telefonnetz. Das Internet hat Kommunikation revolutioniert, weil es im Gegensatz zum meist bidirektionalen Telefon die Multidirektionalität eingeführt hat und neben der gesprochenen Sprache zunächst auch Text, später das Bild und sogar Filme sowie  Lifestreams als Medien zuließ. Und es suggeriert, durch seine erfolgreiche Entwicklung als Blaupause für Organisationen dienen zu können.

Menschen bedienen sich der Kommunikationsmedien. Organisationen ebenso. Aber Organisationen verfolgen im Gegensatz zu Kommunikationsnetzen einen Zweck. Dieser ist ihre Daseinsberechtigung. Selbst der Debattierclub hat einen Zweck, nämlich den Austausch individueller Wahrheiten zur Meinungsbildung. Das erfordert ein Mindestmaß an Struktur, an Regeln, an Führung in Form eines Moderators. Für ein Parlament reicht das aber schon nicht mehr aus. Denn hier geht es darum, Entscheidungen zu treffen. Auch Unternehmen haben einen Zweck. Der besteht nicht primär darin, Geld zu verdienen, sondern Produkte herzustellen oder Dienstleistungen zu erbringen und diese auszutauschen. Was allen Organisationen aber gemeinsam ist, ist die Verbindlichkeit von Kommunikation in Form von Entscheidungen.

Organisationen, die dazu nicht in der Lage sind, fließen im Nirwana der Unverbindlichkeit umher und es geschieht etwas sehr Interessantes: Entweder schaffen sie sich recht bald selbst Ordnungsstrukturen – oder sie schaffen sich ab.

Wider das Entropiegefälle

Warum ist das so? Weil ein Mindestmaß an Struktur für das Funktionieren von Systemen unerlässlich ist. Sie würden sonst, dem Entropiegefälle folgend, zerfallen. So ist es in der Natur und so ist es in sozialen Systemen. Das haben auch die Grünen begriffen. Jedes System verbraucht Energie und ohne den Aufbau von Ordnungsstrukturen würde diese Energie ineffektiv vergeudet, würde versickern wie Wasser in der Wüste. Nur der Aufbau stabiler Strukturen wirkt diesem Gefälle entgegen. Struktur bedarf dabei eines Mindestmaßes an Komplexität, um Selbstregulation und Anpassung zu ermöglichen. Ein Motor ist irgendwann schrottreif (ihm fehlen die selbstregulierenden Reparaturmechanismen), ein Ökosystem kann im Prinzip ewig existieren. Gleiches gilt für soziale Systeme.

Was bedeutet dies nun für Führung in Unternehmen? Wichtig ist zunächst, dass Unternehmen fortwährend Entscheidungen treffen müssen, denn komplexe Systeme sind Systeme im Fließgleichgewicht, die eine ständige Anpassung erfordern. Es ist grundsätzlich egal, wie Entscheidungen zustande kommen, Hauptsache sie kommen überhaupt zustande. Aber Entscheidungen sind immer eine Reduktion von Komplexität. Sie machen ja Kommunikation verbindlich, schließen also bestimmte Alternativen aus. Sie sind damit aber auch immer eine Einschränkung von Freiheit. Wenn ich mich für einen Produktenwurf entscheide, muss ich alle anderen verwerfen. Wenn ich eine Aufgabe an einen Mitarbeiter vergebe, geht ein Anderer leer aus. Daher wird es immer individuelle oder gar kollektive Widerstände gegen Entscheidungen geben.

Es ist aber die ureigenste Aufgabe von Führung, dafür zu sorgen, dass Entscheidungen dennoch getroffen werden. Tut eine Führungskraft das nicht oder zu zögerlich, verpasst sie die Grundaufgabe von Führung und schadet der Organisation. Das heißt nicht, dass ein Manager jede Entscheidung selbst und allein treffen muss. Hier sind alle Varianten vom Basta-Stil bis hin zum Konsens denkbar. Wer aber glaubt, in einer komplexen Welt Entscheidungen grundsätzlich sozialisieren zu können, verkennt den Sog des erwähnten Entropiegefälles. Ohne die Reduktion der  Komplexität des Entscheidungsraumes sind Unternehmen kaum effektiv. Entscheidungen würden sich hinziehen und zu einem System organisierter Verantwortungslosigkeit verkommen. Ausschüsse, Gremien und Verwaltungen wären unerlässlich, um kollektive Beschlüsse vorzubereiten. Derartige Strukturen kann sich nicht einmal ein Staatswesen leisten. Eigentlich nicht. Es sei denn um den Preis einer gigantischen Verschuldung. Führung muss also zwangsläufig einen Entscheidungsrahmen vorgeben, wenn sie eine Organisation effektiv führen will.

Umgekehrt wäre es aber ebenso vermessen zu glauben, dass Führungskräfte die intelligenteren Entscheider wären und deshalb lieber autoritär führen sollten, wie das Coach Roland Jäger fordert. Wer autoritär führt, reduziert die Intelligenz des Unternehmens auf seine eigene. Und die ist nun mal begrenzt.

Wir sollten uns aber ebenso davon verabschieden, Führung grundsätzlich das schmutzige Etikett der Macht anzuheften. Modernes Management im 21. Jahrhundert nutzt die Wissensgesellschaft, nutzt die Kenntnisse und Kreativität seiner Mitarbeiter durch Teilhabe und durch Delegation von Verantwortung. Führung strukturiert, Führung fordert und fördert gleichzeitig. Eine gute Führungskraft ist wie ein Katalysator: Sie initiiert, beschleunigt und steuert Prozesse. Diese Form von Führung unterscheidet sich grundsätzlich vom autoritären Stil, der Komplexität ja eher ignoriert. Wer autoritär führt, vergeudet Ressourcen. Wer meint autoritär führen zu müssen, beschäftigt die falschen Leute. Beides, die Führungs- und damit die Verantwortungslosigkeit sowie die Monopolisierung von Intellekt, schaden Organisationen massiv. Erstere nutzt mentale Ressourcen nicht effektiv, letztere nutzt sie gar nicht.

(Publiziert im BusinessVillage Magazin, 13.01.2011. Dieser Artikel ist auch Teil der Blogparade im Leistungsträger-Blog von Gudrun Happich.)

Mehr zu meinem Verständnis von Führung finden Sie in meinem Buch „Change! Bewegung im Kopf.“

Weitere, lesenswerte Literatur zum Thema Führung und Leadership:

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3 Antworten auf „Führen ohne Führung?“

  1. Beim Lesen dieser Zeilen habe ich mich gefragt ob Sie etwas von der Firma Semco, dessen Hauptsitz in Brasilien liegt, gehört haben?

    Ein wichtiges Beispiel, wie ein hohes Maß an Demokratie, Transparenz und ein weit überdurchschnittliches Maß an Eigenverantwortlichkeit jedes Einzelnen in der Realwirtschaft ausgesprochen gut funktioneren kann. Und das seit fast 25 Jahren.

  2. Prinzipiell stimme ich überein, Führung ist heute, also im 21. Jahrhundert, nicht mehr als Ausübung von Macht zu sehen.
    Vielmehr ist die Aufgabe, das Treffen von Entscheidungen und Einhalten von Regeln sicher zu stellen – auch das am besten ohne Macht…

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