In den westlichen Industriegesellschaften entstammt die Vorstellung des Alterns größtenteils noch den Denkweisen des 19. und 20. Jahrhunderts. So wie Maschinen eine begrenzte Laufzeit haben, sinkt der gefühlte gesellschaftliche Nutzen von Menschen im Alter rapide ab. Dann ist allenfalls Omas Jungenstilklavier noch von Wert. In einem Beitrag für die Zeitschrift Kommunikation & Seminar setze ich mich mit dieser Sichtweise des Alterns und den damit verschwendeten Potentialen auseinander. Lesen Sie hier im Blog einen Auszug.
Der Mann ist 93 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl, raucht gern und weiß eine Menge über die Welt zu erzählen. Die Jahre haben an seinem Körper gezehrt, aber sein Verstand ist klar, seine Stimme fest und seine Gedanken messerscharf. Er liest täglich mehrere Zeitungen. Wird er um Rat gefragt, weiß er meist eine kluge Antwort zu geben. Nein, die Rede ist nicht von Altkanzler Schmidt. Die Rede ist von Heinz Klemm. Der lebt in einer Seniorenresidenz irgendwo im Norden Deutschlands. Ihn fragt sehr selten jemand um Rat.
Würde er in Indien, in Indonesien oder im Kongo leben, wäre sein Rat geschätzt. Heinz Klemm würde vielleicht im Ältestenrat seines Ortes wirken und Hochachtung genießen. Warum nicht in unserer so hoch entwickelten westlichen Kultur? Warum zählen bei uns ältere Menschen zu Auslaufmodellen des „Human Capital“? Vielleicht weil wir glauben, dass Jugend und Leistungsfähigkeit Synonyme sind.
Dazu diese Anekdote: Als ich, damals 30jährig, vor vielen Jahren in Norwegen beim Birkebeinerlauf, einem Ski-Marathon über 56 Kilometer, teilnahm, überholte ich mit einer Laufgruppe eine ältere Dame, etwa 70-jährig. Die holte uns später ganz entspannt lächelnd ein – während wir Pause machten. Das ging so etwa dreimal. Ins Ziel kamen wir gemeinsam. Und ein Bekannter, Leichtathlet, Sportstudent, gut trainiert, hätte bei diesem Lauf beinahe eine Medaille gewonnen – in der Gruppe der über 70jährigen. Er war erst 25!
Only the good die young
Das maximale biologische Lebensalter des Menschen liegt bei etwa 120 Jahren. Es sind kaum Fälle von Menschen nachgewiesen, die älter wurden. Die bislang älteste Frau der Welt, die Französin Jeanne Louise Calment, fing mit 85 Jahren das Fechten an, mit Hundert fuhr sie noch immer Fahrrad und erst mit 115 Jahren gab sie das Rauchen auf. Sie selbst meinte, dass ihr wohl der Genuss von Olivenöl, Knoblauch und Portwein das hohe Alter beschert hätten. Natürlich: Das scheint allen Erfahrungen und Annahmen über das Alter zu widersprechen, doch es zeigt, dass wir auch steuern können, wie alt wir werden.
Jimi Hendrix starb mit 28, Mozart schaffte es immerhin bis zum 35. Lebensjahr. The good ones die young. Ist Alter eine Last, so etwas wie eine Krankheit, ein notwendiges Übel, das wir am Ende tapfer erdulden müssen? Womöglich geht es weniger darum, wie alt wir werden, sondern vielmehr darum, wie wir alt werden.
Vor etwa einer Generation noch hat sich diese Frage für den Durchschnitt der Bevölkerung gar nicht gestellt. Der Lebensabend war kurz. Männer überlebten ihre Pensionierung meist nur um wenige Jahre. Das hat sich geändert. Heute haben Männer gute Chancen das 80. Lebensjahr zu erreichen, Frauen sogar das 85. Tendenz steigend. Dazu kommt: Menschen sind heute meist viel fitter im Alter und aktiver als es früher die Alten waren. Prognosen gehen davon aus, dass sich in Deutschland die Zahl der über 80-Jährigen von derzeit vier Millionen auf zehn Millionen im Jahr 2050 erhöhen wird. Und wir diskutieren, ob wir die Rente mit 67 wirklich haben wollen.
Die demographische Entwicklung wird uns dazu zwingen, alte Glaubenssätze zum Alter über Bord zu werfen. Sie stimmen eh nicht mehr. Hirnforscher werden inzwischen nicht müde darauf hinzu weisen, dass Menschen nicht nur lebenslang –lernen können, sondern dies bis ins hohe Alter auch tun.
Lesen Sie weiter in Heft 2 vom Kommunikation & Seminar