„Warum glaubt der Mensch?“ fragte jüngst DER SPIEGEL und widmete dieser Frage eine Titelstory. Ist Religion ein Auslaufmodell oder ist der Glaube ein wichtiges Element menschlicher Gemeinschaft. Wissenschaftler geben interessante Antworten, die auch für die Arbeit im Coaching hilfreich sein können.
Kennen Sie Prinzessin Alice? Sie ist eine wundersame, aufmerksame Prinzessin, der nichts entgeht. Zumindest behauptet das der amerikanische Psychologe Jesse Bering. Nein, keine Esoterik, sondern Teil eines Experiments mit Kindern, denen er die Aufgabe stellt, von einer Linie aus Wurfpfeile auf eine Zielscheibe zu werfen. Dabei gibt er ihnen mit auf den Weg, nicht zu schummeln. Dann verlässt er den Raum. Doch die Übung erweist sich als schwierig und so heften viele Kinder die Pfeile kurzerhand direkt an die Scheibe. Kein Problem, sie sind ja unbeobachtet – meinen sie. Stellt der Versuchsleiter nun einen Stuhl in den Raum und erklärt den Kindern, dass dort Prinzessin Alice sitzt, die zwar unsichtbar sei, aber doch alles mitbekommt, was im Raum passiert, so geschieht ein Wunder: fast alle Kinder, selbst diejenigen, die an der Existenz der Prinzessin zweifeln, halten sich an die Regeln.
„Na, das funktioniert ja nur bei Kindern“, mag jetzt der ein oder Andere sagen. Weit gefehlt. Platziert man zum Beispiel ein Foto mit Augen über eine Spendenbüchse, steigt die Spendierlaune signifikant. In einem anderem Experiment, dem Diktator-Spiel, erhalten die Teilnehmer Geld und es wird ihnen freigestellt, diese zu behalten oder mit anderen zu teilen. Die meisten behalten das Geld natürlich. Werden die Versuchsteilnehmer aber zuvor mit Begriffen wie „göttlich“ oder „Geist“ konfrontiert, verdoppelt sich das Spendenaufkommen.
Offensichtlich ist hier eine imaginäre Kraft am Werk. Menschen neigen dazu, höhere Instanzen zu respektieren, vor allem solche, die mit unseren sechs Sinnen nicht erfassbar sind. Die Neigung zur Spiritualität ist wahrscheinlich eine typisch menschliche Eigenschaft, sagen die Wissenschaftler.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass gläubige Menschen mehr Nachkommen in die Welt setzen als Atheisten. Und vielleicht steckt ein System dahinter, dass tief gläubige Emigranten in Amerika den Keim einer sehr erfolgreichen Nation gesetzt haben, dass niederländische Calvinisten weite Teile des Welthandels beherrschten, dass orthodoxe Juden ebenso wie streng gläubige saudi-arabische Wahhabiten und die Anhänger des Jainismus, einer strengen indischen Religion, oft erfolgreiche Geschäftsleute sind.
Warum glauben Menschen? Möglicherweise deshalb, weil sich der gemeinsame Glaube an eine höhere Instanz hervorragend als Bindungsglied zwischen Menschen eignet. Imaginäre Gottheiten und Ideale erweisen sich als dauerhafter und effektiver als weltliche Macht. Und vielleicht ist die Bildung großer Gemeinschaften nur mit Hilfe der Religion möglich gewesen. Nicht verwunderlich, warum sich auch irdische Mächte oft des Glaubens als Unterdrückungsinstrument bedienen.
Aber warum macht der Glaube so oft erfolgreich? Weil er, um mit Viktor Frankl zu sprechen, sinnstiftend ist. Glaube gibt eine Antwort auf die gerade von Kindern so oft gestellte Frage des „warum“. Verankerung im Glauben bedeutet eben nicht nur Kontrolle sondern schafft auch Sicherheit und Zuversicht. Und so ist der Glaube an etwas Höheres als uns selbst das Netz, das Menschen nicht nur zusammenhält, sondern auch vor dem Absturz ins Nichts bewahrt. Glaube versetzt keine Berge, aber er liefert die nötigen Ressourcen, um Berge zu überwinden.
Was hat das nun alles mit Coaching zu tun? Ich mache kein spirituelles Coaching, aber ich stelle immer wieder fest, dass selbst Glaubens-Fragmente Menschen in Veränderungsprozessen hilfreich sein können. Glaubenssätze sind oft der Hebel, der Menschen in Bewegung setzt. Vielfach ist es der Glaube an sich selbst („Ich weiß, dass ich diese Aufgabe lösen kann“), der Glaube an äußere Ressourcen („Meine Familie gibt mir die Kraft, diese Krisen zu überstehen“) oder an eine höhere Macht („Ich spüre, dass es meine Bestimmung war und ist, diese Aufgabe zu übernehmen“).
Aber es gibt sie auch, die Bremser, die selbstbeschränkenden Glaubenssätze: „Ich bin nicht für diesen Job gemacht“, „Meine Herkunft ist halt mein Problem“ oder gar „Ich kann doch sowieso nichts ändern.“
Wie ist das bei Ihnen? Welche Glaubenssätze sind für Sie Kraftquellen – und welche behindern Sie eher? Und wir können noch weiter gehen: Welcher „Geist“ weht in Ihrer Firma, in Ihrer Organisation, in Ihrer Familie? Ist es ein verbindender Geist, ein wertschätzender oder ein mistrauischer und fordernder Geist?
Quelle:
„Warum glaubt der Mensch? Und warum zweifelt er?“ DER SPIEGEL 52/2012, S. 112 ff.