Die amerikanischen Geheimdienste tun es, der britische Geheimdienst tut es. Damit nicht genug: Einige Firmen tun es auch. Aber wir haben doch eigentlich nichts zu verbergen, oder? Doch haben wir! Weil Abhören unsere Autonomie untergräbt. Nicht nur in der Politik, sondern auch in Organisationen.
„Einige Gespräche werden aus Gründen der Qualitätssicherung mitgehört. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind …“ Sie kennen sicher diesen Spruch, wenn Sie schon einmal mit einem Callcenter verbunden waren. Mich hat das bisher nicht so besonders gestört. Aber wie sehen das eigentlich meine Gesprächspartner? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie wissen – oder zumindest damit rechnen müssen, dass jemand mithört, mitliest, mitguckt, bewertet, lobt oder tadelt? Zu meiner Zeit als Wissenschaftler an der Uni hatten wir einmal einen Diplomanden, der sich gelegentlich hinter einen stellte und mitlas, wenn man am PC arbeitete. Manchmal kamen dann sogar Korrekturvorschläge. Haben Sie so jemanden gern im Nacken? Ich nicht. Aber warum eigentlich nicht? Habe ich was zu verbergen? Will ich kein Feedback? Schäme ich mich für das, was ich tue? Keineswegs. Aber ich kann halt nicht arbeiten, wenn ich das Gefühl habe, ich werde beobachtet, abgehört, mitgeschnitten. Ich kann nicht kreativ sein und keine Motivation entfalten, wenn das, was ich mache, unmittelbar vergesellschaftet wird. Ich will das nicht. Es ist solange meins, bis ich entscheide, was ich davon preisgeben will.
Vertrauen braucht Vertraulichkeit
Nun stellen Sie sich einmal vor, sie führen ein Telefonat mit einem Freund, Ihrer Mutter, einem Geschäftspartner. Und stellen Sie sich vor, es hört jemand mit. Verläuft das Gespräch dann genau so, als wären sie privat, ganz unter sich? Wie wäre es, wenn sie es nicht genau wissen, dass tatsächlich jemand mitliest, es aber immerhin möglich oder sogar wahrscheinlich ist? Und wie wäre es, wenn jemand Ihren Email-Verkehr mitliest. Schreiben Sie dann das gleiche, als würde er nicht mitlesen? Es gibt nicht nur den gläsernen Bürger, sondern auch den gläsernen Mitarbeiter. Alles im Interesse von Sicherheit und Qualität, versteht sich. Vertrauliche Räume gibt es in Zeiten von Großraumbüros und digitalem Controlling in vielen Unternehmen nicht mehr.
Aber was passiert, wenn Vertraulichkeit verletzt wird? Und warum brauchen wir Vertraulichkeit überhaupt? Meine Antwort: Wir brauchen überhaupt keine Vertraulichkeit, es sei denn wir betrachten Autonomie als ein hohes Gut. In einigen Sekten und in totalitären Staaten gehört das Untergraben von Vertraulichkeit und das Verletzen der Intimsphäre zum Instrumentarium der Unterdrückung. Menschen verlieren dann nämlich den Freiraum zum autonomen Denken und Handeln. Sie werden dann zum durchschaubaren und funktionierenden Wesen in einem System, das durch die Autorität einzelner oder des Kollektivs gesteuert wird und Sie selbst vom Subjekt zum Objekt macht.
Offene Gesellschaften brauchen teilhabende Autonomie
Diese Woche berichtete ein Sektenaussteiger in der Sendung „Menschen bei Maischberger“ von der devoten, hörigen Haltung seiner Frau, die in der Sekte aufgewachsen war. Kein Wunder, denn in regressiven Systemen lernen Menschen Erwartungen zu erfüllen, aber sie verlernen, selbst Erwartungen zu hegen und zu äußern. Was offene, und lernende Systeme ausmacht, fehlt hier: teilhabende Autonomie. Menschen verlieren eigene Meinungen, eigene Wünsche, eigenen Ideen und verlassen sich auf das, was Autoritäten ihnen eintrichtern.
Solche Strukturen hatten wir im Zeitalter der Aufklärung überwunden. Eine respektierte Intimsphäre gab es im Mittelalter nicht. Selbst die Notdurft wurde in der Öffentlichkeit ausgeübt. Schamlos. Und nun erklärt uns ein amerikanischer Geheimdienstchef ganz schamlos, dass seine Regierung ja schließlich wissen müsse, was Angela Merkel denkt. Ach ja? Wie der amerikanische Präsident selbst sagte, kann er die Bundeskanzlerin ja anrufen, wenn er es wissen möchte. Denn schließlich sind wir doch Partner? „Aber er kann doch nie sicher sein, dass sie ihm wirklich erzählt, was sie denkt“, würde ein James Bond gleich erwidern. Ja, Mr. Bond, aber das müssen Sie aushalten, wenn Sie Partnerschaft wollen. Diese Lücke der Unsicherheit wird ausgefüllt durch Vertrauen in den anderen. Man kann es nicht erzwingen („vertraue mir doch!“). Man kann es nur erzeugen, indem man es selbst gibt. Das hat Vertrauen mit Liebe gemeinsam. Wer Vertrauen erzwingen will, der will Vasallen und keine Partner.
Unzertrennlich: Vertrauen und Unsicherheit im Doppelpack
Verletze ich dieses Vertrauen, indem die die Sphäre der Vertraulichkeit störe, so ist der Schaden immens, wie man derzeit an der Diskussion um die Spähangriffe auf das Kanzleramt und den Internetverkehr gut beobachten kann. Die Kehrseite: Schenke ich Vertrauen, so mache ich mich verletzlich, denn der andere könnte es ja ausnutzen. Das ist die Unsicherheit, mit der wir leben müssen, wenn wir Vertrauen wachsen lassen möchten. Nicht nur zwischen Staaten, auch innerhalb von Organisationen. Immer wieder erlebe ich diese Gratwanderung im Coaching und in Konfliktworkshops. Diese letzte Sicherheitslücke dürfen wir nicht schließen, denn vollständige Sicherheit kann es nie geben, wenn wir Freiheit und Autonomie erhalten wollen. „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren“, sagte einst der amerikanische Präsident Benjamin Franklin. Wohl war.
Und ich möchte hinzufügen: Es kann kein konstruktives Miteinander, kein proaktives Engagement und auch keine echte Motivation einzelner geben, wenn wir eine Atmosphäre des Misstrauens erzeugen. Aber eben diese Atmosphäre ist auch in Unternehmen leider noch zu weit verbreitet. Vielleicht ist die NSA-Affäre ja ein Anlass, auch hier einmal in sich zu gehen. Vielleicht.
Ja!
Gemäss Niklas Luhman ist die Reduktion von Komplexität die Hauptaufgabe von sozialen Systemen (also auch von Organisationen). Nur so können wir Menschen überhaupt überleben. Ein wesentliches Element der Komplexitätsreduktion ist – gemäss Luhmann – das Vertrauen: „Vertrauen ist stets in die Zukunft gerichtet. … im Akt des Vertrauens (wird) die Komplexität der zukünftigen Welt reduziert… Vertrauen erschließt durch die Reduktion von Komplexität Handlungsmöglichkeiten, die ohne Vertrauen – nach Luhmann – unwahrscheinlich und unattraktiv geblieben und somit nicht zum Zuge gekommen wären“ [1] [2]
Ausgehend von Luhmann geht es also nicht so sehr darum, „besser“ mit dieser sich durch den Verlust an Vertrauen verstärkt – oder gar als überfordernd – wahrgenom-menen Komplexität so umzugehen, dass wir jederzeit flexibel und mit kurzfristig wechselnden Zielen in unserer Welt leben können sondern eher darum, wie wir wie-der mehr Vertrauen zu Personen, Rollenträgern, Teams, Normen, Organisationen, Strukturen und Prozessen erlangen.
[1] Tavra, Dijana: Vertrauen als Mechanismus der Reduktion von Komplexität; Universität Bern Sozialanthropologisches Institut, http://tinyurl.com/a62hqaw
[2] Luhmann, Niklas: Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Kom-plexität. UTB, Stuttgart, 2000
Danke für Ihren Verweis auf Luhmann an dieser Stelle, Herr Korn.