Familienaufstellung – Versuch einer Entdämonisierung.

Die FamilienaufstellungFamilienaufstellung ist eine Möglichkeit, um Konflikte und problematische Beziehungen innerhalb von Familien zu erhellen – und zu heilen. Die Filmemacherin Caterina Woj hat darüber einen berührenden Film gemacht.

„Ich bin ganz früh mit dem Bewusstsein groß geworden, ich darf meine Eltern nicht überlasten. Zuwendung ist immer mit Bedingung verbunden“, sagt ein Teilnehmer einer Familienaufstellung mit der NLP-Therapeutin Brigitte Groß. In ihrer Praxis hat sich eine Gruppe von Menschen versammelt, deren gemeinsames Ziel darin besteht, Antworten auf Fragen zu finden, die sie meist schon lange mit sich herumtragen. Es geht um das Ich, um die eigene Unsicherheit, um enttäuschte Erwartungen, um Verletzungen, um Angst, um Trauer. Es geht vordergründig nicht unbedingt um die Kindheit und die eigene Familie. Aber vieles, was uns schon lange belastet oder was immer wiederkehrt, hat seinen Ursprung in der Kindheit oder in der Familie, sagt Brigitte Groß.

Die Therapeutin moderiert die Gruppe in einer Familienaufstellung. Dieses Verfahren hat seine Wurzeln in der Familientherapie und erlangte durch Bert Hellinger größere Bekanntheit. Sein Verdienst ist es, dieses Verfahren einem breiteren Publikum nahe gebracht zu haben und die therapeutische Beschäftigung mit der eigenen Familie vom individualtherapeutischen Raum in die systemische Interaktion gebracht zu haben. Die Tragik seiner Arbeit besteht meiner Ansicht nach darin, diesen systemischen Raum mit doktrinären und archaischen Familienbildern belastet, ja sogar vergiftet zu haben. Ein Therapeut, der sich anmaßt, vermeintlich „richtige“ Strukturen zu kennen und Lösungen  zu wissen, projiziert seine Welt in die Welt seiner Klienten. Das halte ich im harmlosen Fall für eine zweifelhafte Hilfe, im schlimmsten Fall für eine Verletzung der Menschenwürde. Auch die Deutsche Gesellschaft für  Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) hat sich sehr deutlich von Hellinger distanziert.

Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer haben schließlich die Aufstellungsarbeit aus diesem geradezu esoterischen Dunst herausgeholt und mit ihren systemischen Strukturaufstellungen sowohl im familientherapeutischen Bereich als auch im Bereich der systemischen Organisationsaufstellung die systemische Beratung enorm bereichert. Hier schlüpft der Therapeut oder Coach in die Rolle des Moderators. Es gibt keine direktiven Interventionen, sondern die Moderation beschränkt sich auf aktives Zuhören, auf ein Verdichten des Gesagten, auf systemische und  lösungsorientierte Fragen und auf solche Angebote, welche die Wahlmöglichkeiten des Klienten erhöhen.

Im Film führt Brigitte Groß die Teilnehmer der Familienaufstellung sehr behutsam in deren innere Welt mit all den Wahrnehmungen ihrer selbst und der Menschen, die sie umgeben. Sie lässt Menschen Dinge sagen, die diese vielleicht gefühlt, aber nie gesagt haben. Dabei dirigiert sie aber nicht, sondern paraphrasiert das Gesagte und fasst die gestellten Beziehungen in Worte. Achtsam, einfühlsam und ja, sicher auch subjektiv. Dieser Prozess des sich Wahrnehmens im Geflecht der Beziehungen und des Ausdrucks dieser Wahrnehmungen löst bei den Beteiligten teilweise sehr intensive Empfindungen aus. Das geht unter die Haut – selbst mir als Zuschauer. Und es löst Prozesse aus, die ein Versöhnen mit sich selbst und anderen möglich machen. Damit kann Aufstellungsarbeit auch Blockaden wegräumen und die Tür aufmachen zur Lösung ganz andrer Probleme, jenseits von Kindheit und Familie. So erleben es die Teilnehmer.

Nun fragen sich viele, wie es sein kann, dass fremde Menschen sich so in die Welt anderer hineinfühlen können. Und mancher Kritiker fragt sich sogar, ob hier nicht eine Schein-Realität aufgebaut wird. Interessanterweise sind die Wahrnehmungen der Stellvertreter in der Familienaufstellung offenbar nicht beliebig, sondern mit anderen Beteiligten in anderen Gruppen zumindest teilweise reproduzierbar. Dies fand Peter Schlötter in seiner Dissertation heraus. Mir erscheint es aber wichtig zu verstehen, dass hier keineswegs die Realität der Betroffenen abgebildet werden kann, sondern lediglich ein mögliches Abbild der systemischen Realität. Es ist ein Konstrukt, das in einem Prozess der Versöhnung mit sich selbst und mit anderen hilfreich sein kann.  Voraussetzung ist allerdings, dass die Regeln systemsicher Arbeit berücksichtigt werden, wie sie u.a. der DGSF formuliert hat.  Es wird Zeit, Hellinger hinter sich zu lassen und dieses Verfahren zu Entdämonisieren. Der Film von Caterina Woj trägt hoffentlich mit dazu bei.

Link zum Film bei YouTube

Literatur:

Sparrer, Insa (2009): Systemische Strukturaufstellungen. Theorie und Praxis. 2., überarb. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Verl. (Strukturaufstellungen).

Schlötter, Peter (2005): Vertraute Sprache und ihre Entdeckung. Systemaufstellungen sind kein Zufallsprodukt – der empirische Nachweis. 1. Aufl. Heidelberg: Verlag für Systemische Forschung im Carl-Auer-Verlag.

Hellinger, Bert (2013): Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. 10. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verl (Systemaufstellungen).

Stellungnahme des DGSF zum Thema Familienaufstellungen.

 

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3 Antworten auf „Familienaufstellung – Versuch einer Entdämonisierung.“

  1. Schön, dass Ihnen der Film gefallen hat. Ich habe darin mitgewirkt. (unten rechts im Bild mit braunem Pullover). Ich finde ihn auch sehr gut gelungen. Vielleicht auch ein interessanter Buchtip dazu ist das Buch „Bausteine der Veränderung“ von Brigitte Gross. Ein sehr empfehlenswertes Buch zur Familienaufstellung in der Einzelarbeit. Darin werden die grundlegenden Dynamiken der Aufstellungsarbeit sehr gut erklärt. Das Buch ist für Coaches aber auch als Übungsbuch für Laien angelegt.
    Schöne Grüße
    Tobias Judmaier

    1. Danke für Ihren Beitrag und den Literaturtipp, Herr Judmaier. An Sie als Teilnehmer hätte ich eine Frage (die Sie natürlich nicht beantworten müssen): Wie haben Sie das Vorsprechen von Brigitte Gross empfunden? Hat das immer gepasst oder gab es auch zeitweise das Gefühl „nein, das empfinde ich jetzt nicht so“ oder „hier fühle ich mich jetzt nicht mehr wohl.“? Ich habe den Film mehrfach gesehen und hatte beim ersten Mal eher den Eindruck, die Therapeutin gestaltet zu viel inhaltlich. Das steckte mir zu viel aus der Welt der Therapeutin drin. Die weiteren Male habe ich dann ihre Worte genauer studiert. Es kam mir dann eher so vor wie Paraphrasierungen und Verdichtungen dessen, was die Beteiligten zuvor ausgedrückt hatten. Wie haben Sie das als Beteiligter wahrgenommen?

      1. Hallo Herr Dr. Sander,
        Ich muss vorweg schicken, dass ich Brigitte Gross sehr gut kenne und bei ihr unzählige Familienaufstellungen als Assistent im Rahmen meiner Ausbildung erlebt habe. Ich habe aber auch selber einige Aufstellungen bei ihr gemacht.
        Zur Arbeitsweise von Brigitte Gross: Die Sätze die gesprochen werden sind verdichtete Information. Sie ergeben sich einerseits aus dem, was sich in dem Moment in der Aufstellung ergibt, andererseits wird die Aufstellung jedes einzelnen sehr intensiv vorbereitet. Fr. Gross hat von jedem der Beteiligten einen mehrseitigen Fragebogen zur Familiengeschichte. Sie kombiniert bei den Sätzen das Hintergrundwissen mit dem offensichtlichen in der Aufstellung. Natürlich hat man oft das Gefühl: „das ist mir jetzt zu viel“ oder „das will ich jetzt nicht sagen“, die Sätze sind aber immer sehr stimmig und werden von einem selbst als „lösend“ bzw. als „befreiend“ empfunden.

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