Derzeit erleben geradezu einen Boom der Achtsamkeit. Und immer wieder erlebe ich, dass einige Menschen darunter wohl Emotionsgedusel und Weichspülkommunikation verstehen. Zeit, mit einem Missverständnis aufzuräumen.
Nett ist die kleine Schwester von … Ja, oder so ähnlich. Jedenfalls hat Nettigkeit relativ wenig mit Achtsamkeit zu tun. Achtsamkeit ist auch nicht Freundlichkeit oder Respekt. Und Wertschätzung hat ebenfalls nur bedingt etwas mit Achtsamkeit zu tun. Jedenfalls nicht im dem Sinne, wie er in Beratung, Therapie und Coaching verwendet wird. Wie bekommen wir Klarheit in diesem Dschungel Worten und Bedeutungen?
Bewusst sein
Oft wird der Begriff Achtsamkeit wie er in der Therapie und im Coaching verwendet wird, auf den buddhistische Meditationstechniken zurückgeführt, die sich seit den 1960er Jahre auch im Westen mehr und mehr verbreiteten. Die wesentlich ältere Quelle aber geht mit dem Begriff „awareness“ (Gewarhsein oder Bewusstheit) als Element der Gestalttherapie von Laura und Fritz Perls bis in die 1940er Jahre zurück. Achtsamkeit besitzt eine grundlegend andere Bedeutung als der bei uns gebräuchliche Begriff vom „achtgeben“, den wir vor allem im Sinne von „aufpassen“ oder „vorsichtig sein“ verstehen.
Awareness oder auch Mindfulness bedeutet, im Hier und Jetzt seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was gerade geschieht. Ohne Fokus, aber mit allen Sinnen das wahrnehmen, was ist. Darin unterscheidet sich Achtsamkeit auch vom Begriff der Konzentration, die immer einen klaren Fokus hat. Fokussieren wir uns zu sehr auf die Details, nehmen wir z.B. nicht das übergeordnete Muster in der Abbildung oben wahr. Ebenso hat der Fokus auf Messwerte eines bestimmten Prozesses viel mit Konzentration zu tun aber recht wenig mit Achtsamkeit zu tun. Die Wahrnehmung des Prozesses in seiner Ganzheit hingegen wäre ein Ausdruck von Achtsamkeit. Dazu gehören neben faktischen Aspekten auch emotionale und soziale Faktoren. Was geschieht noch, wer ist daran beteiligt und wie geht es den beteiligten Menschen?
Eine weitere Besonderheit einer achtsamen Haltung ist die Wahrnehmung ohne Wertung und ohne Handlungsimpuls. Es geht darum, bewusst wahrzunehmen und dabei Interpretationen und Schlussfolgerungen auszuschalten. Kurzum: Achtsamkeit bedeutet, den Autopiloten „offline“ zu stellen. Achtsamkeit ist mithin ein bewusstes, absichtsloses Erleben der Gegenwart. Im neurolinguistischen Programmieren ist eine achtsame Haltung grundlegende Voraussetzung für assoziiertes Erleben. Time-Line- oder Reframing-Arbeit geht nicht ohne Achtsamkeit. Wer analysiert, interpretiert, bewertet, ist raus aus dem Prozess und verschließt sich der Chance, neue Erfahrungen zu machen.
Sich selbst-bewusst sein, im hier und jetzt präsent zu sein, ist eine Qualität, die übrigens sehr viel mit (Selbst-(Führung zu tun hat. Wem es nicht gelingt, den Autopiloten auszuschalten, der bleibt im Modus des Re-agierens. Wer sein Leben gestalten will, der sollte besser in den Modus des Agierens wechseln. Und das geht nicht ohne Innehalten, Pause, wahrnehmen, sich einlassen auf den Moment – und dann entscheiden. Und das ist damit alles andere als Emotionsgedusel.
Achtsamkeit als Erfolgsfaktor
Der Managementforscher Otto Scharmer sagt, Die Qualität der Resultate, die ein System produziert, ist abhängig von der Qualität der Achtsamkeit, mit der die Menschen in diesem System handeln. Präsenz und Bewusstheit werden somit zu Erfolgsfaktoren. Dazu gehört schon ganz banal das aktive Zuhören. Steve Covey fasste das in folgende Worte: Erst verstehen, dann verstanden werden. Immer wieder erlebe ich allerdings, dass Menschen nicht zuhören, um zu verstehen, sondern eher um zu antworten. Es werden Stichworte aufgegriffen, mit eigenem Sinn ersehen und dann entsprechend kommentiert. Insbesondere bei Führungskräften keine seltene Angewohnheit. Time is Money und da verkürzen wir mal eben schnell Kommunikation auf das vermeintlich Wesentliche. Aber was ist in der Kommunikation wesentlich? Nur die Fakten oder auch mein Verhältnis zu unserem Gesprächspartner, sprich die Beziehungsebene? Und wie was will mir mein Gesprächspartner vielleicht über sich, seine Bedürfnisse und Gefühle mitteilen? Fühlt er sich wirklich verstanden? Vertraut er mir? All das können wir nur mit einer achtsamen Grundhaltung wahrnehmen. Otto Scharmer nennt die zugehörige Grundhaltung Presencing.
Doch immer wieder erlebe ich, dass Menschen gar nicht präsent sind. Sie sind zwar im Raum, aber gleichzeitig online und in Gedanken ganz woanders. Mitarbeiter großer Firmen berichten mir im Seminar, dass es völlig üblich sei, in Meetings das Notebook aufgeklappt zu lassen um so ganz nebenbei mal Emails zu bearbeiten. Und während eines Telefonats wird mal eben gecheckt, welche Aufgaben und Termine heute noch so anliegen. Da kann man eher von „mind full“ als von „mindful“ sprechen, wie mein Kollege Peter Dilg das mal so schon auf den Punkt gebracht hat. Multitasking soll Zeit sparen, so die Hoffnung. Schon lange betonen Psychologen und Hirnforscher aber gebetsmühlenartig, dass unser Bewusstsein kein Multitasking kennt. Wir können uns nicht bewusst mehreren Aufgaben gleichzeitig widmen. Wer das ignoriert, entwickelt irgendwann eine Kultur der Flüchtigkeit. Gedanken-Zapping wird zur neuen Kommunikationskultur, Oberflächlichkeit zum Businesskonzept.
Otto Scharmer zeigt in seiner Theorie U auf, wie es anders geht. Anstatt Informationen nur zu downloaden oder allenfalls die Fakten zu registrieren, sollten wir besser empathisch zuhören, Bedürfnisse wahrnehmen und mehr noch: generativ zuhören. Damit meint er, Kontakt zu einer sich entwickelnden Zukunft aufzunehmen. Die Emergenz achtsamkeitsbasierten Managements besteht für ihn darin, dem offenen Verstand das offene Herz und den offenen Willen an die Seite zu stellen.
Aber vielleicht fangen wir einfach damit einfach mal bei uns und unserem näheren Umfeld an. Lassen Sie sich auf die Menschen ein, mit denen Sie zusammen leben und arbeiten. Nehmen Sie mit allen Sinnen wahr und spiegeln Sie den Menschen Ihre Wahrnehmung zurück. Betrachten Sie Beziehungen und nicht nur Fakten. Bewerten Sie nicht vorschnell, sondern hören Sie zu. Zeigen Sie Empathie und nicht nur Verständnis. Haben Sie Geduld und lassen Sie auch mal Denkpausen zu. Probieren Sie es einfach aus und sie werden sich wundern, wie sehr sich Ihr Bild von der Welt verändern wird und damit – vielleicht, vielleicht, vielleicht – auch die Welt. Möglicherweise wird das ja Ihr neuer Erfolgsfaktor. In jedem Fall werden Sie entspannter leben. Versprochen.
Literatur:
Scharmer, Claus Otto (2013): Theorie U – von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik ; 3. Aufl. Heidelberg: Carl Auer Verl..