Wutbürger schüren die Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung, vor allem im Osten brennen Flüchtlingsheime, Rassismus wird zum Inbegriff einer neuen Protestbewegung gegen das Establishment, Linke werden zu Putin-Verstehern, das Europa ohne Grenzen wird rückabgewickelt, die Sozialdemokraten landen bei Landtagswahlen unter zwanzig Prozent, die Grünen überholen die Christdemokraten in ihrem Stammland Baden-Württemberg und Norbert Blüm zeltet mit Flüchtlingen an der mazedonischen Grenze. Wie konnte das alles passieren?
Ich stelle mir vor, ich käme von einer zweijährigen Weltumsegelung zurück nach Deutschland. Wahrscheinlich würde ich aus dem Staunen nicht herauskommen. Was ist in diesen zwei Jahren geschehen? Leute, die mal Links waren, haben ihre emanzipatorische Gesinnung verloren und Blicken auf zum neuen starken Mann in Moskau. Aus Gutbürgern wurden Ressentiment-getriebene Wutbürger. Die Angst geht um, und vieles ist nicht mehr so, wie es mal war. Ausgelöst wurden diese Hysterie und die Verschiebung der politischen Landschaft durch den Strom einer Million Flüchtlinge, die aus dem Nahen Osten vor dem Krieg oder vom Balkan vor der dort herrschenden Armut fliehen. Und ein Europa mit fünfhundert Millionen Einwohnern verfällt in eine kollektive Panik, fürchtet seinen Untergang.
Angst frisst Verstand
Aber das ist nur die Oberfläche. Das ist nur das Symptom eines gesellschaftlichen Umbruchs, der mit dem Untergang des real-existierenden Sozialismus begonnen, mit der Globalisierung Fahrt aufgenommen und in der weltweiten Finanzkrise einen vorübergehenden Höhepunkt erfahren hat. Die Welt wird kleiner, aber wesentlich komplexer. Die größtenteils auf Pump finanzierte Vollkaskogesellschaft Europas scheint aus den Fugen zu geraten. Mit der Ukraine-Krise und dem Quasi-Bankrott Griechenlands brach die Gewissheit zusammen, dass Europa eine Insel der Seligen ist, die zwar an der Globalisierung wesentlich mitverdient hat, aber bisher alle Unbill sich vor den Toren Europas abspielt. Bisher haben wir all das Unheil der Welt mit Chipstüte in der Hand vor dem Fernseher betrachtet. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Schere zwischen Arm und Reich größer wird. Und nun kommen die Flüchtlinge.
Und nein, es gibt hier keine einfachen Antworten. Die Lage ist vertrackt, sie ist komplex. Und genau das verunsichert viele Menschen. Sie suchen nach einfachen Antworten und landen oft bei den Vereinfachern und bei den Demagogen, die aus den Ängsten von Menschen ein eigenes Süppchen kochen. Immer wieder die alten Tricks: Polarisieren, Generalisieren, Halbwahrheiten oder gar Lügen verbreiten. Wir kennen diese Mechanismen der Demagogie spätestens seit Joseph Goebbels und dennoch verfängt sie immer wieder. Weil verunsicherte Menschen offenbar empfänglich sind für Ideologien, die ihnen vermeintliche Sicherheit versprechen.
Kommunikation ist ein Schlüssel, um dieses Phänomen zu verstehen, aber auch um ihm zu begegnen. Fangen wir einmal beim Framing an. Frames sind Wahrnehmungsmuster, die unsere Bewertungen von Realität prägen und damit auch unser Verhalten steuern. So wird zum Beispiel Migration von vielen als Strom, als Massenbewegung wahrgenommen. Es wird gar von Völkerwanderung gesprochen. Andere sprechen von einem Flüchtlingssog, den die Bundeskanzlerin ausgelost habe. Man spricht sogar von einer Invasion. Logisch, dass dann auch von Grenzschutz und Schusswaffengebrauch schnell die Rede ist. Ein amerikanischer Politiker zeigte in einem Vortrag auf, dass Amerika nicht im Entferntesten in der Lage sei, Armut in der Welt durch Immigration zu beseitigen. Ein geschickter Frame, denn er suggeriert, dass die Armen der Welt auf dem Weg nach Amerika seien. Sind sie aber nicht, weil sich die Armen die Reise nicht einmal leisten könnten.
Virale Infektion
Und es kommt mit den sozialen Netzwerken ein Medium hinzu, das Gleichgesinnte verbindet, in dem sich Gerüchte wie ein Lauffeuer verbreiten und der sich Meinungen zu einer quasi autistischen Wahrnehmung verdichten, bei der kritisches Hinterfragen nicht mehr stattfindet. Menschen suchen sich in der viral-digitalen Welt ihre Wahrheiten aus, die in ihre bisherige Welt passen, die aber immer mehr den Bezug zum tatsächlichen Leben verlieren.
So entsteht Angst in Form einer Epidemie. Hirnforscher haben herausgefunden, dass Ängste im Zweifelsfall immer stärker sind als alle anderen Wahrnehmungen. Der virale Mechanismus des Internets führt daher tendenziell zu einer Verstärkung der Ängste, insbesondere dann, wenn es kein Regulativ mehr gibt. Wer obskuren Internet-Quellen mehr traut als der Tagesschau, landet schnell in einem informationellen Abwärtssog. Es kommt es zu einer massiven Verzerrung der Wahrnehmung bis hin zu solch paranoiden Vorstellungen, dass Migranten die Islamisierung Europas anstreben.
Ein weiterer Effekt ist die Polarisierung: Sascha Lobo sprach kürzlich von einer Entwederoderismus. Es regiert die Ideologie der Extreme. Man ist entweder gegen oder für Flüchtlinge, man ist für Merkel oder gegen Merkel, man ist Demokrat oder Nazi, man ist für oder gegen den Koran. Es wird nicht mehr zwischen Islamismus und Islam unterschieden. Ein Muslim ist im Zweifelsfall eben auch ein Islamist. Das Differenzierungsvermögen einiger Menschen geht in Zeiten der Angst scheinbar völlig den Bach runter. Und das wird sich auch nicht ändern solange mit Angst Politik gemacht wird und eine Reflexion über die Auslöser der Angst völlig ausbleibt.
Und wer eben diese Reflexion fordert, ist schnell als Beschwichtiger abgestempelt oder sogar von der anderen Seite bezahlt. Umgekehrt ebenso: Die Übergriffe von Nordafrikanern in der Silvesternacht in Köln rufen auch Menschen auf den Plan, die nun relativieren. Das habe nichts mit der Herkunft zu tun, Übergriffe gegen Frauen seien bei uns doch immer noch an der Tagesordnung. Es haben halt durchgeknallte Männer gehandelt. Wer hier eine Kulturdebatte führen will, wird schnell des Kulturrassismus verdächtigt.
Aus dem Entweder-oder gibt es kein Entrinnen. Warum das so ist: Weil Angst das klare Denken blockiert. Unser präfontaler Cortex setzt partiell aus, unser Gehirn schaltet sozusagen auf Notmodus um und kennt nur noch drei Strategien: Angriff, Flucht oder Erstarrung.
Heilung ist möglich
Was kann man dagegen tun? Zum einen Konfrontation mit der Angst, dem vermeintlichen Stressor ins Auge gucken. In Niedersachsen hat ein Dorf, das sich vehement gegen eine Flüchtlingsunterkunft gewehrt hat, nach Ankunft der Flüchtlinge seine Ressentiments verloren. Warum? Weil sie die Flüchtlinge nicht mehr als Masse, sondern mehr und mehr als Menschen wahrgenommen haben, die weder unzivilisiert noch islamistisch waren, sondern Menschen auf der Suche nach Sicherheit.
Ja, unsere Gesellschaft wird sich durch Zuwanderung verändern. Wir kennen aus Change-Prozessen die Phase der Negation, in der Menschen die Bremse ziehen, Veränderung ablehnen, sich teilweise sogar in wüste Untergangsszenarien hineinsteigern. Genau das erleben wir derzeit. Es wird aber auch eine Phase der Irritation folgen. Denn es ist eher unwahrscheinlich, dass Integration ein Selbstläufer wird. Es ist vor allem ein Prozess der Gegenseitigkeit. Die Vorstellung, dass Integration allein eine Bringschuld von Migranten ist, verkennt völlig, dass Integration nur gelingen kann, wenn die Mehrheitsgesellschaft auch bereit ist, Fremde zu integrieren. Der kanadische Premierminister Trudeau hat jüngst vorgemacht, wie das gehen kann: Durch Aufgeschlossenheit und unterstützende Angebote an Flüchtlinge.
Das 21. Jahrhundert ist nicht schwarz, nicht weiß, sondern ziemlich bunt. Und diese zunehmende Komplexität können wir nicht durch eine Rolle Rückwärts und durch Abschottung bewältigen, sondern durch Offenheit, Vielfalt der Ideen und Kulturen, Kooperation, Flexibilität, Neugier, Gestaltungswille und eine optimistische Zukunftsperspektive. Eine wichtige Erkenntnis dabei lautet: Das Glas ist weder halb leer nicht halb voll. Es kann immer wieder gefüllt werden. Wir haben es in der Hand. So sieht das aus!