Es ist nun schon ein paar Jahre her, dass Claus Otto Scharmer seine Theory U veröffentlicht hat. Aber in dieser Zeit, in der genaues Beobachten, empathisches Zuhören und Achtsamkeit immer mehr der Flüchtigkeit und der schnellen Bewertung weichen, finde ich es hilfreich, Scharmers Theory U hier noch einmal vorzustellen.
Claus Otto Scharmer hat am MIT ein neues Konzept von Führung entwickelt. Er stellte fest, dass viele Führungskräfte sich sehr schnell von ihren Aufgaben und Problemstellungen ein Bild machen, es interpretieren und dann sehr flink reagieren. Das ist der mentale Autopilot-Modus. Verhalten ist dann vor allem von Erfahrungen der Vergangenheit geprägt und folgt eher Impulsen – oder allenfalls rein analytisch-rationalen Überlegungen. Das ist nicht per se schlecht, aber weder geeignet, high-performance-leadership zu erreichen, noch dient es einem achtsamen und konstruktiven Verhalten in unserem Alltag.
Schon unsere Wahrnehmung ist oft oberflächlich, auf unsere Ich-Welt fokussiert. Den schnellen Abgleich unserer Beobachtungen mit bekannten Mustern nennt Scharmer Downloading. Das ist die „Ach-ich-weiß-schon-was-du-sagen-willst“-Haltung, die Ihnen sicher bekannt vorkommt, nicht nur bei Führungskräften. Auf dieser Stufe finden wir keine neuen Erkenntnisse sondern nur die Bestätigung dessen, was wir ohnehin schon zu wissen glauben (confirming what you know). Die nächste Stufe ist die faktische Wahrnehmung, das genaue Hinsehen (factual listening). Das ist gewissermaßen die wissenschaftliche Form der Beobachtung. „Ach, das ist ja spannend. Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?“ Wir lassen uns dabei nicht von Erwartungen oder Vorurteilen leiten, sondern registrieren allein Fakten, also messbare Größen (dis-confirming what you know). Gute Debatten nutzen diese Art des Zuhörens. Es liefert das Höchstmaß an rationaler Erkenntnis und ist damit gewissermaßen die Sehhilfe der Aufklärung.
Aber rationale Erkenntnis ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Empathisches Verstehen (empathetic listening) fokussiert auf die Welt des Anderen, die Du-Welt (re-directed listening). Wir steigen gewissermaßen in die Schuhe des Gegenübers und nehmen seine Sichtweisen, Empfindungen und Bedürfnisse wahr. Dieses Hinspüren verbindet uns mit anderen Menschen und schafft die Grundlage für Vertrauen und Wertschätzung. „Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie es Ihnen geht. Ich merke, dass Sie das bewegt.“ Die höchste Stufe des Zuhörens nennt Scharmer generative listening. Es vereint achtsame Wahrnehmung mit kreativer Inspiration. Es ist die Art der Wahrnehmung, in der etwas Neues entsteht. Scharmer schreibt: „This level of listening requires us not only to access our open heart, but also our open will – our capacity to connect to the highest future possibility that can emerge.”
Die Art unserer Aufmerksamkeit beeinflusst auch die Art der Entwicklung des Systems, in dem wir uns bewegen. Das betrifft die individuelle Ebene, die Ebene der Gruppe, die Ebene der Institution und die globale Ebene. Über unsere Aufmerksamkeit steuern wir, ob wir nur reagieren und uns lediglich mit Symptomen beschäftigen oder ob uns gelingt, die tiefer liegenden Schichten eines Systems zu durchdringen und Inspirationen für eine Entwicklung des Systems zu erfahren.
Eine generative Konversation verändert uns und verschafft uns neue Einsichten über die Zukunft und uns selbst. Das nennt Otto Scharmer Presencing (Gegenwärtigung). Er beschreibt es so: „Connect to the source of inspiration and common will. Go to the place of silence and allow the inner knowing to emerge.” Es ist das Loslassen von allem, was nicht wirklich essentiell ist (letting go). Damit öffnen wir uns unserem zukünftigen Selbst (letting come). Im Presencing ist das „coming-in“ der Zukunft und die Transformation des Alten vereint.
Ausgehend davon können wir das Neue zu einem konkreten Zukunftsbild verdichten (Crystalizing): Es ist die Bewegung hin zum Handeln. Es braucht dazu unter anderem eine starke Intention und eine Öffnung zum inneren Willen, wie Scharmer das beschreibt. Gewinnt das Neue an Form, kommt die Zeit, es zu erproben, die Phase des Prototyping. Dies ist die Stunde des Lernens, aber auch der Fehler und des Scheiterns. Gelingt das Vorhaben, können wir das Neue in die Welt bringen (Performing). Der gesamte Prozess umfasst die Öffnung des Denkens, die Öffnung des Fühlens und die Öffnung des Willens.
Scharmer schafft in der Management-Lehre hiermit den Link zu achtsamkeits-basierten Ansätzen, die zum großen Teil aus der fernöstlichen Lebenskunst, vor allem aus dem Buddhismus stammen. Das erscheint einigen Kritikern als zu esoterisch. Aber das ist es aus meiner Sicht nicht, da die Theory U im Gegensatz zu esoterischen Lehren nicht mit vermeintlichen Wahrheiten operiert, die es nur zu akzeptieren gelte. Er bietet ein offenes System an, deren Inhalte Menschen selbst gestalten.
Wenn Sie das alles nun an gegenwärtige Debatten zu aktuellen politischen Themen erinnert, dann ist das kein Zufall. Oft ist von zu wenig Empathie die Rede, und oft vom Postfaktischen. Letzteres ist nichts anderes als das Herunterladen von Information aus der Sicht eigener Erfahrungen oder Glaubenssätze und ohne faktische Grundlage. Folgen wir der Theory U, sollten wir daher besser vom Prä-Faktischen sprechen. Menschen sind oft genug auf der Stufe des Herunterladens gefangen. Der Erkenntnisgewinn auf dieser Stufe ist aber fast gleich Null. Der Prozess der Gestaltung von Zukunft umfasst das genaue Beobachten und das empathische Zuhören sowie das sich Gegenwärtigen der Vergangenheit und der Zukunft gleichermaßen. Insofern ist die Theory U vielleicht auch über das Thema Leadership hinaus ein hilfreiches Konzept zur Lebensführung.
Scharmer, Claus Otto (2013): Theorie U – von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik ; 3. Aufl. Heidelberg: Carl Auer Verl.