Ist Achtsamkeit nur Nabelschau?

Ich höre und staune. Ein Historiker hält den gegenwärtig weit verbreiteten Fokus auf Achtsamkeit und Meditation für narzisstisch. Es halte die Menschen vom Denken ab. Eine ansonsten von mir sehr geschätzte Beraterkollegin spricht von übertriebenem Selbstliebemüll – und mir bleibt die Spucke weg. Zeit, mal mit einigen Glaubenssätzen hier aufzuräumen.

Theodore Zeldin ist Historiker und kein Freund von Achtsamkeit. Er hält sie für kontraproduktiv, für einen Tranquilizer, den man ständig einnehmen müsse. Mindfulness vermehre das Wissen der Welt nicht. Mehr noch, es sei im Kern narzisstisch, da es zu sehr auf das Individuum selbst fokussiere. Hier das Interview in voller Länge. Es enthält das alles und noch viel mehr an Glaubenssätzen über Mindfulness. Lassen Sie uns die wichtigsten einmal näher betrachten.

 

Glaubenssatz eins: Achtsamkeit hat zum Ziel, mehr über sich selbst zu erfahren.

Ich weiß nicht, woher dieser Glaubenssatz stammt, aber ich denke, dass er wohl mehr mit einer unachtsamen Wahrnehmung von Begrifflichkeiten zu tun hat. Für mich heißt Achtsamkeit vor allem: den Autopiloten ausschalten und  bewusst wahr zu nehmen, also hinhören, hinsehen, hinfühlen. Ganz klar: Wer achtsam ist, nimmt auch sich selbst wahr, achtet auf innere Signale. Aber Achtsamkeit bezieht sich nicht nur auf mich, den Betrachter, sondern auch auf andere Menschen. Achtsamkeit in der Kommunikation bedeutet damit auch und gerade: wahrnehmen, was außerhalb von mir geschieht. Das bedeutet: weniger Multitasking, mehr Aufmerksamkeit und mehr Unmittelbarkeit in der Kommunikation. Wer achtsam ist, hört aufmerksam zu, achtet auf Feinheiten in der Kommunikation, lässt sich auf den anderen empathisch ein und hört die Botschaften zwischen den Zeilen. Selbsterkenntnis steht hier überhaupt nicht im Fokus.

 

Glaubenssatz zwei: Meditation bedeutet, das Denken abzuschalten.

Das ist ein weit verbreiteter Irrtum über Meditation. Denken lässt sich nicht abschalten, allenfalls fokussieren. Allen mir bekannten Formen der Meditation haben Bewusstheit und Fokus als zentrale Elemente gemeinsam. Das kann Bewusstheit der Wahrnehmung, des Denkens oder der Bewegung beinhalten. In der einfachsten Form fokussiere ich mich auf meinen Atem. Meditation heißt nicht unbedingt Stille, auch nicht Bewegungslosigkeit. Tanz kann eine Form der Meditation sein, ebenso das aktive Musizieren. Auch asiatische Kampfkunst ist eine Form der Meditation. Meditation bedeutet auch, unser „Affengehirn“ zu kontrollieren. Das Affengehirn versorgt uns ständig mit neuen Impulsen und lenkt uns von der Fokussierung ab. Meditation schaltet das Denken nicht ab, aber es beruhigt das Denken. Dadurch trägt es nachweislich auch zum Stressabbau bei. Hirnforscher konnten feststellen, dass während der Meditation die Hirnaktivität nicht ab-, sondernd zunimmt.

 

Glaubenssatz drei: Achtsamkeit ist Ausdruck von Narzissmus.

Aus den bisherigen Erklärungen sollte klargeworden sein, dass Achtsamkeit nichts, aber auch gar nichts mit narzisstischer Selbstsucht zu tun hat. Ein Narzisst sucht die ständige Aufmerksamkeit und Anerkennung durch andere. Achtsamkeit ist aber kein Akt der Selbstsucht. Ganz im Gegenteil.

 

Glaubenssatz vier: Achtsamkeit und Meditation entstammen der buddhistischen Kultur und sind  mit unserer Lebensweise nicht kompatibel.

Kulturell geprägte Muster des Denkens und Handelns haben sich seit Menschengedenken über Kulturgrenzen hinweg verbreitet. Ob ein Muster von einer anderen Kultur angenommen wird, bestimmt deren Resonanzfähigkeit. Oft sind es Derivate des Originals, die adaptiert werden. Das betrifft das Yoga ebenso wie andere Meditationstechniken. Hilfreiche Teile werden herausgegriffen, andere verworfen oder so verändert, dass sie kompatibel sind. Aber es stimmt schon: Mindfulness ist mit einem mechanistischen und tayloristischen Weltkonzept des 19. und 20. Jahrhunderts wenig kompatibel. Denn Mindfulness macht Objekte wieder zu Subjekten, ersetzt Reaktion durch Aktion und Konkurrenz durch Partnerschaft.

 

Glaubenssatz fünf: Achtsamkeit und Meditation verändern nichts.

Das ist was dran. Bücher lesen verändert allerdings auch nichts. Selbst der Besuch einer Vorlesung bei Prof. Zeldin verändert nichts. Von Marx stammt ja der berühmte Satz, man solle sie Welt nicht erklären, sondern verändern. Wohl denn. Was verändert Mindfulness? Meine Erfahrung: Sie schärft den Blick auf mich selbst – und auf andere. Sie aktiviert meine Sensorik, nach innen und nach außen. Zum einen: Sie macht meinen Kopf frei von stressigen Gedanken und führt zu einem bewussteren Umgang mit mir selbst. Und zum anderen: sie führt zu einem wertschätzenderen Umgang mit anderen, unterbricht mein reflexartiges Bewerten von Situationen und Menschen. Stattdessen: Autopilot abschalten, wahrnehmen was ist, entscheiden was sein soll.

Alles in allem: Mindfulness allein rettet zwar nicht die Welt. Aber sie schafft die Grundlage dafür, dass Menschen offener, empathischer und kooperativer miteinander umgehen können. Mit sich selbst und mit anderen. Ist das eine Nabelschau? Ich finde nicht.

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Eine Antwort auf „Ist Achtsamkeit nur Nabelschau?“

  1. Hallo Herr Sander,

    Es wäre sehr schön, wenn wir von Herrn Zeldin mehr über Geschichte erfahren würden. Dort scheint er Experte zu sein.
    Er beschreibt ein sehr verkürztes Bild von Achtsamkeit. Vielleicht verwechselt er es mit „think positive“. Achtsamkeit ist m.E. eine Voraussetzung zur Führung schwieriger Gespräche und Lösung von Konflikten, auch Politischen und Sozialen. Und ja, es führt zu Wissenserwerb, durch das Erkennen und Anerkennen verschiedener Prämissen und Lösungsversuchen.
    Ihren Anmerkungen zu den Glaubenssätzen stimme ich voll und ganz zu, dem gibt es nichts hinzuzufügen.
    Danke für den Beitrag und einen schönen Tag.
    Matthias Liebl

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