In einer immer komplexeren Welt, fällt es Menschen zunehmend schwer, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Selbst Führungskräfte geraten immer mal wieder in einen Zustand der Verwirrung, wenn es um Entscheidungen in einem schwierigen Umfeld geht. Wie kommen sie da wieder heraus? Das Cynefin-Modell sorgt für bessere Struktur in Entscheidungen.
Jan hat gerade die Leitung eines größeren Bauprojektes übernommen. Da er mit Projekten dieser Größenordnung noch relativ unerfahren ist, fühlt er sich von der Planung der einzelnen Bauabschnitte und der Koordination der beteiligten Gewerke etwas überfordert. „Ganz schön komplex das Ganze und daher auch schwer zu steuern“ stöhnt er. Doch da irrt er. Denn dieses Bauprojekt ist nicht komplex, sondern allenfalls kompliziert. Mit der Methode der Netzplantechnik ist es gut darstellbar und damit auch planbar. Was aber ist komplex und was ist nur kompliziert?
Der Wissenschaftler David Snowden und die Beraterin Mary Boone haben ein Modell entwickelt, das Führungskräften hilft, Entscheidungen einzuordnen und den Entscheidungsweg zu strukturieren. Sie haben ihren Ansatz Cynefin (sprich Kjunefin) genannt. Sie unterscheiden simple, komplizierte, komplexe und chaotische Zusammenhänge.
Simple Zusammenhänge sind durch einfache Kausalketten (wenn-dann-Beziehungen) gekennzeichnet. Hier geht es um einfache Routinen und Prozesse, die sich in Best Practice Anleitungen beschreiben lassen. Kurzum: Hier reichen entweder gesunder Menschenverstand oder einfache Berechnungen auf der Basis der vorliegenden Fakten, um zu Entscheidungen zu kommen. Daher lassen sich simple Aufgaben auch leicht kommunizieren und oft auch an Nicht-Experten delegieren. Beispiel: Einkaufsentscheidungen, bei denen vorwiegend der Preis eine Rolle spielt.
Das heißt aber nicht, dass bereits bestehende Best Practices in jedem Fall eine nützliche Lösung sind. Auch hier kann Querdenken gefragt sein, wenn die alten Prozesse nicht mehr greifen. Führungskräfte sollten Kommunikation und Austausch mit allen fördern, die hier zu Lösungen beitragen können. Da simple Probleme leicht lösbar sind, neigen einige Menschen dazu, komplexe Probleme zu simplifizieren. In manchen Fällen ist das möglich, in den meisten erzeugt man das aber eine Verzerrung der Situation, die zu fatalen Fehlentscheidungen führen kann. Eines der berühmtesten Beispiele ist das hilflose Manövrieren der Kontrollingenieure im Atomkraftwerk Tschernobyl, die letztlich zum GAU geführt hat.
Kompliziert ist alles, was Expertenwissen braucht, um Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen. Prozesse sind nicht mehr linear und die Zahl der Variablen sorgt dafür, dass gesunder Menschenverstand überfordert ist, um die komplizierten Zusammenhänge zu erfassen. Lösungen sind nicht mehr einfach und meist gibt es mehrere sinnvolle Wege. Dennoch können wir hier noch auf der Basis vorhandener oder erhältlicher Informationen zu Entscheidungen kommen. Das einfache Kategorisieren reicht hier aber nicht mehr aus. Es wird eine gründliche Analyse erforderlich. Kommunikation, Austausch von Wissen und Erfahrung wird mit zunehmender Kompliziertheit immer wichtiger. Projektteams sollten hier konstruktiv zusammenarbeiten und auch divergierende Lösungsansätze diskutieren. Harmonie ist etwas für das Wochenende: Problemlöser lassen sich auf den Diskurs ein. Beispiel: Das Design eines industriellen Produktionsprozesses.
Gefahren lauern hier in einem zu starken Problemfokus und einem Beharren auf alten Konzepten. Ein zu starker Problemfokus kann zur Paralyse des Teams führen. Man versinkt in der Problematik, anstatt nach Lösungen zu suchen. Querdenker sind hier umso wertvoller. Daher sollten auch Nicht-Experten beteiligt werden. Die bringen nämlich oft völlig neue, kreative Lösungsoptionen in die Diskussion.
Komplex ist eine Situation erst dann, wenn die Zahl der Variablen derart ansteigt, dass Modelle und Berechnungen kaum mehr möglich sind, um zu Lösungen zu gelangen. Wir wissen also nicht sicher, welche Intervention zu welcher Reaktion führt. Trial-and-Error Lösungen gewinnen hier zunehmend an Bedeutung. Ausprobieren, Überprüfen, Nachbessern. Beispiel: Das Entwerfen einer geeigneten Marketingstrategie in einem Markt mit vielen Beteiligten. Die meisten größeren politischen Entscheidungen fallen unter diese Kategorie. Die häufige Kritik angeblich unausgegorener Entscheidungen, wie z.B. im Falle der Hartz-Reformen, läuft daher ins Leere. Viele Kritiker verstehen offenbar nicht, wie komplexe Systeme funktionieren.
Ob eine Entscheidung gut oder schlecht war, kann erst die Praxis zeigen. Orientierungshilfen können Modellfälle und Planspiele bieten. Manche Führungskräfte neigen dazu, weiter Best Practice Lösungen anzuwenden. Sie riskieren damit eine Rolle rückwärts und werden der Situation nicht gerecht. Komplexität lässt sich nicht mit Trivialität begegnen. Patentrezepte greifen hier nicht mehr. Komplexe Situationen erfordern ein hohes Maß an Diversität und Kommunikation. Kollektive Intelligenz ist hier gefragt und die erfordert meist mehr als nur Expertenwissen. Sie braucht Kreativität und kritischen Geist ebenso wie eine gehörige Portion Pragmatismus.
Letztlich ist der Umgang mit Komplexität immer Fliegen auf Sicht. Man kann Ziele definieren, Meilensteine festlegen, muss aber ständig den Kurs kontrollieren und – eher wahrscheinlich – sogar korrigieren. Der Autopilot wäre hier eher eine Gefahr.
Chaotische Situationen sind demgegenüber wie Fliegen auf Sicht und im Nebel. Chaos versetzt die meisten Menschen in Panik, da ihnen die Orientierung und die Kontrolle über die Situation abgeht. Alte Strukturen und Prozesse sind außer Kraft gesetzt, neue (noch) nicht etabliert. Gesetzmäßigkeiten gibt es nicht, daher ist es auch sinnlos, nach ihnen zu suchen. Hier brauchen wir keine Analytiker, sondern Macher. Beispiel: Einsatz der Rettungsmannschaften nach den Anschlägen auf die Twin-Towers in New York 2001. Ursachenforschung ist zwecklos, Handeln ist das Gebot der Stunde, um Menschen wieder aus den Turbulenzen herauszuführen bzw. um zu retten, was zu retten ist. Lange Diskussionen und Austausch sind hier meist fehl am Patz. Hier gilt es, so schnell wie möglich beherzt zu handeln, zu beobachten und wieder zu handeln. Führt ein Weg nicht zum Ziel, gehe einen anderen. Frag nicht nach dem Warum, frag lieber nach dem Wohin!
Hier und nur hier ist wirklich eine starke Hand gefragt, eine starke Führungspersönlichkeit. Diese sollte sich aber von Beratern auf die Probe stellen lassen. Feedback und Hinterfragen sind erlaubt, konterkarieren ist kontraproduktiv. Loyalität ist in chaotischen Situationen angebrachter denn je. Ist wieder sicheres Fahrwasser erreicht, können die oben genannten Handlungsoptionen wieder angewandt werden. Wenn das Chaos vorüber ist, sollten Führungskräfte die Zügel lockern, um angemessen auf simple, komplizierte oder komplexe Situationen zu reagieren.
Jan hat übrigens letztlich den Kern der Situation erkannt, alle erforderlichen Daten gesammelt, mit den wichtigsten Beteiligten gesprochen, Engpässe lokalisiert, diese abgesichert und das gesamte Projekt in seiner Planungssoftware abgebildet. Er weiß aber auch, dass Planung immer dann an ihre Grenzen stößt, wenn sie auf das wirkliche Leben trifft.
Literatur:
Snowden, D.J; Boone, M. (2007): A Leader’s Framework for Decision Making. In: Harvard Business Review (11), S. 69–76. Online verfügbar unter https://hbr.org/2007/11/a-leaders-framework-for-decision-making/, zuletzt geprüft am 11.02.2015.