Die Erfindung sogenannter „alternativer Fakten“ hat eine Diskussion neu befeuert: Können wir angeblichen Fakten überhaupt trauen? Und: Wie stark ist unsere Vernunft und wie viel Hirn steuert eigentlich unser Handeln?
Vernunft steuert unser Handeln kaum, findet die Autorin Elisabeth Kolbert. In ihrem Beitrag Why Facts Don’t Change Our Minds für den New Yorker beleuchtet sie dieses Thema genauer. Kolbert zeigt auf, wie sich unsere Vernunft täuschen lässt und wie Menschen sich oft von vorgefassten Meinungen oder den Meinungen anderer beeinflussen lassen. Werden sie oft genug mit ein und derselben Aussage konfrontiert, neigen Menschen eher dazu, diese zu glauben als vernünftigen Gegen-Argumenten. So erlangen kontra-faktische Behauptungen Dominanz. Bauchgefühl schlägt Ratio. Keine guten Aussichten, oder?
Im Grunde bestätigt das Paul Watzlawicks Aussage, dass Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation sei. Aber ist Wirklichkeit damit quasi beliebig? Und sind unsere subjektiven Empfindungen vielleicht sogar die besseren Ratgeber als die wohl durchdachten, auf Fakten basierenden Meinungen etablierter Experten? Haben die Kontra-Rationalisten Recht mit ihrer Annahme, dass wir uns um „true facts“ nicht kümmern müssen, da die ja eigentlich eher „fakes“ oder zumindest Irrtümer wohlmeinender Intellektueller sind?
Vernunft braucht Empfindung
Hier einige grundsätzliche Anmerkungen dazu. Vernunft und Empfindung sind per se keine Gegensätze, sondern Vernunft braucht Empfindung. Die reine Ratio ist völlig unvernünftig, wie Antonio Damasio in seinem Buch Descartes Irrtum anschaulich beschrieben hat. Vor einigen Jahren habe ich dazu schon etwas in diesem Blog geschrieben. Menschliche Intelligenz beruht nicht vorwiegend auf logischem Denken, sondern auf der Fähigkeit, in komplexen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dazu brauchen wir aber neben den richtigen Informationen und deren logischen Verknüpfung auch unsere Erfahrung. Wie sollten Sie sich im Restaurant für eine Speise entscheiden können, wenn sie nur den Aussagen des freundlichen Kellners glauben, aber keine Idee vom Geschmack der angebotenen Gerichte haben?
Somit ist der Mensch kein Informationsverarbeitungssystem, sondern ein Erfahrungsverarbeitungssystem. Intuition kann also sehr vernünftig sein, wenn sie denn auf unserer integrierten Lebenserfahrung beruht. Der Psychologe Julius Kuhl nennt diese Instanz Extensionsgedächtnis. Gerade bei der Bewältigung komplexer Aufgaben reicht unsere Ratio allein nicht. Aber Intuition ist nicht gleich Bauchgefühl. Bauchgefühl speist sich nämlich oft nicht aus eigener Erfahrung, sondern schlichtweg aus Glaubenssätzen. Die sind gekennzeichnet durch kognitive Verzerrungen: Generalisierte Einzelerfahrungen, ungeprüft übernommene Auffassungen anderer, Plausibilitäts-Irrtümer („Die Sonne und die Sterne kreisen um die Erde. Kann doch jeder überprüfen“) und logische Fehlschlüsse aufgrund falscher Prämissen („Die Erde ist also nachweislich der Mittelpunkt des Universums“).
Konstruktivisten gehen davon aus, dass unser Weltbild konstruiert ist. Wir zeichnen uns eine mentale Landkarte. Die ist aber nicht identisch mit dem Gebiet. Mehr noch: Das Gebiet leiße sich gar nicht objektiv erfassen, da die Annahme der Objektivität der Illusion unterliege, dass es eine Beobachtung ohne Beobachter gebe (Heinz von Foerster). Echt? Aber was ist dann mit den Fakten? Gibt es denn gar keine „true facts“. Ist alles nur Fake, oder zumindest ein Hirngespinst?
Haaaalt, nun mal langsam.
Fakten basieren auf Evidenz.
Dass ich heute Morgen beim BNI-Treffen war, weiß ich und das werden auch 20 andere Menschen bestätigen können. Es gibt außerdem ein Protokoll. Dass bei Trumps Vereidigung nur knapp halb so viele Menschen anwesend waren wie bei Obamas Amtseinführung, lässt sich durch Fotos belegen. Da gibt es keine Interpretationsspielräume. Aber: Dass Trump eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat, ist kein Fakt, sondern eine Interpretation bzw. eine Definition, wenn man mit der entsprechenden medizinischen Diagnostik arbeitet.
Reden wir über komplexe Systeme, gelten Fakten allerdings immer nur in einem sehr begrenzten Rahmen. Ein Problem der empirischen Wissenschaften, die immer noch in kausal-analytischen Zusammenhängen denken. Viele Aussagen sind schlicht Interpretationen verknüpfter Beobachtungen. In komplexen Systemen gibt es eine systemische Unschärfe und so arbeite ich denn wohl oder übel immer mit Vereinfachungen und Zuschreibungen. Solange die nützlich sind, um ein bestimmtes Problem zu lösen (!), ist das erlaubt. Schaffen diese Simplifizierungen aber mehr Probleme als sie lösen, sind es wenig nützlich.
Dazu gehören vor allem solche Vereinfachungen, die aus Polarisierungen bestehen und Komplexität als nicht-existent abtun. Dazu zählen religiöse oder ideologische Gut-und-Böse-Kategorien, einseitige Schuldzuschreibungen und reine Symptombetrachtungen. Daraus resultiert dann zum Beispiel Hau-Drauf-Politik. Letzteres hat eine Untersuchung gezeigt, die ebenfalls in dem oben zitierte Beitrag genannt ist.
Kiew ist nicht Madrid
Je geringer der Informationsstand von Menschen, umso mehr neigen sie zu drastischen Entscheidungen. So korrelierte zum Beispiel der geringe Informationsstand zur Ukraine-Krise mit der hohen Bereitschaft der befragten Amerikaner zur militärischen Intervention. Schon das Maß der Unkenntnis über die geographische Lage der Ukraine korrelierte mit der Interventionsbereitschaft der Befragten. Erschreckenderweise lag die mittlere (!) Abweichung der geschätzten geographischen Lage des Landes 1.800 km von der tatsächlichen Lage der Ukraine entfernt. Das entspricht in etwa der Distanz Kiew – Madrid. Unwissenheit ist also kein guter Ratgeber. „Mr. Trump, keep your fingers away from the red button. Your missiles will miss the target„, könnte man sagen.
Was schließen wir daraus? Bauchgefühl und Vereinfachung sind nie wahr, sondern immer nur mehr oder weniger hilfreiche Tools. Sie sind simplifizierte Modelle der Wirklichkeit. Wir sollten diese Tools immer wieder hinterfragen und bereit sein, sie zu verwerfen. Zugegeben, beim Bauchgefühl nicht ganz so einfach. Dazu gehören unbedingt ein offener Diskurs und ein kritischer Geist. Beobachten, systematisieren, kritisch beleuchten und erst dann entscheiden. Ich denke, das unterscheidet vernünftige Menschen von unvernünftigen Menschen. Die Vernunft ist ein Add-On, das uns die Evolution geschenkt hat, oder sagen wir besser: ein Upgrade, das wir uns hart erarbeitet haben. Manchmal gibt es noch Funktionsstörungen, aber wir sollten sie nicht leichtfertig wegwerfen. Blaise Pascal sagte einmal: „Es gibt zwei gefährliche Abwege: die Vernunft schlechthin abzulegen und außer der Vernunft nichts anzuerkennen.“Recht hat er.
Und auch Empathie ist übrigens sehr vernünftig. Sie erlaubt uns nämlich ein gedeihliches Zusammenleben mit anderen Menschen. Ganz jenseits von Fakten. Nicht schlecht, oder?