An der Universität Stanford wurde vor vielen Jahren ein spannendes Experiment durchgeführt, das uns zeigt, zu welchen kognitiven Leistungen unser Gehirn bei der Konstruktion unserer Wirklichkeit in der Lage ist. Ich will Ihnen davon hier berichten, weil ich glaube, dass es geeignet ist, fest verwurzelte Glaubenssätze über unsere Wahrnehmung der Welt zu erschüttern.
(Auszug aus meinem Buch „Change! Bewegung im Kopf.“)
Jeweils zwei Personen wurden eine Reihe mikroskopischer Bilder von Gewebezellen gezeigt, anhand derer die Versuchspersonen lernen sollten, woran man gesunde von kranken Zellen unterscheiden kann. Um zu jedem Bild ihr Votum abzugeben, hatten sie zwei Knöpfe vor sich, einen für »krank«, einen für »gesund«.
Wenn eine Versuchsperson zu einem Bild einen Knopf drückte, erhielt es vom Versuchsleiter mit Hilfe von zwei Lämpchen ein Feedback: »richtig« oder »falsch«. Über das Feedback sollte es den Testpersonen nach einer Reihe von Bildern möglich sein, typische Merkmale für krankhafte Zellen zu erkennen. So weit klingt das ganz einfach. Ein spannender Lernprozess. Was die Sache aber verkomplizierte, war zum einen, dass die beiden Personen, die selbstverständlich biologische Laien waren, nicht in Kontakt miteinander treten konnten. Zum anderen bekam nur Versuchsperson A das korrekte Feedback mitgeteilt, während Versuchsperson B das Feedback auf die Antworten von Person A mitgeteilt wurde – was aber natürlich keine der Personen wusste. Es war also völlig egal, welche Wahl Person B traf. Sie bekam allenfalls zufällig ein korrektes Feedback auf ihre Beurteilung.
Am Ende des Versuches konnten die Versuchspersonen A mit einer Trefferquote von 80 Prozent erkennen, welche Bilder krankhaft veränderte Zellen zeigten. Dass die Trefferquote der B-Personen wegen des widersprüchlichen Feedbacks zu vernachlässigen war, muss wohl nicht erwähnt werden.
Die Versuchspersonen sollten sich anschließend über ihre Wahrnehmungen austauschen und die Merkmale für krankes Gewebe herausarbeiten. Es verwundert nicht, dass die A-Personen vergleichsweise einfache Erklärungen fanden, während die Ausführungen der B-Personen sehr kompliziert waren.
Was allerdings erstaunt, und damit kommen wir zum Höhepunkt des Versuches: Nicht nur den B-Personen, sondern auch den meisten A-Personen erschienen die komplizierten, aber selbstredend falschen Erklärungsversuche von Person B überzeugender als ihre eigenen und besseren Erklärungen. Ja, je komplizierte und absurder die Darstellungen der B-Personen, umso überzeugender wirkten sie auf Person A. Auf die Frage schließlich, wer wohl bei einer Wiederholung des Versuches besser abschneiden würde, waren alle B-Personen und sogar die meisten A-Personen der Auffassung, dass dies wohl Versuchsperson B sein würde.
Dass unsere Wahrnehmung schon implizite Deutungen enthält, hatten wir schon im letzten Kapitel gesehen. Obiges Beispiel zeigt, das unsere Ratio zu noch wesentlich erstaunlicheren (Fehl-) Leistungen fähig ist, als wir erahnen. Interessant ist vor allem, dass Widersprüche nicht zwingend zu einer Korrektur von einmal getroffenen Einsichten führen, sondern oft nur zu einer Verfeinerung der Argumentation, wie aus dem geschilderten Versuch deutlich wird. Auch willkürliche Lernprozesse führen somit nicht unbedingt zu hilfreichen Ergebnissen. Unsere Vernunft funktioniert also nicht immer zuverlässig. Sie verkommt gern zur Rechtfertigung einmal getroffener Entscheidungen und Haltungen mit Hilfe einer Aneinanderreihung nicht-belegbarer Prämissen.
Paul Watzlawick hat obiges Beispiel schon in den 1970er Jahren in seinem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit dargestellt und schreibt in einer Fußnote:
»Mit Hilfe solcher unwiderlegbarer Beweisführungen kommt man schließlich zu Überzeugungen, deren Unerschütterlichkeit nur noch von ihrer Merkwürdigkeit übertroffen wird.« (Watzlawick 2003, S. 63).
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